Die Nachbarinnen haben Katzen. Schön ist das. Denke ich jedenfalls. Da ist zum einen Whisky, die schwarzweiße Katze mit dem Methusalem-Gen. Sie war schon 16, als sie sich entschloss, zu den Nachbarn zu ziehen. Jetzt ist sie über 19 und immer noch fit wie ein Turnschuh. Den Jüngeren ließ sie damals keine Chance, denn sie besetzte wie selbstverständlich als erste und einzige die Transportbox. Sie ist die absolute Traumkatze, anschmiegsam und streichelsüchtig. Das wäre etwas für mich.
Zum anderen ist da Sir Henry, ein Perserkater. Doch der mag mich nicht besonders, zeigt es aber nur, wenn ich ihn mal versorge. Ist seine Besitzerin, Verzeihung „Dosenöffnerin“, dabei, darf ich ihm sogar den Bauch kraulen. Sind wir allein, haut er mir eine runter. Aber das ist ja kein Maßstab. Bestimmt nicht.
Ich rede also ab und zu davon, dass ich eigentlich auch eine Katze haben möchte, süß und lieb, vertrauens- und hingebungsvoll. Aber das Tierheim ist eine halbe Weltreise entfernt, wenn man kein Auto besitzt. So bleibt es beim Reden, bis eines Tages, es ist der 3. April 2003, die Nachbarin (die mit dem Perserkater) vor der Tür steht, mit dem Autoschlüssel winkt und mir keine Chance zu einer Ausrede lässt. „Jetzt oder nie. Los, wir holen eine Katze.“ Na gut. Wir fahren erst einmal eine Katzenerstausstattung kaufen: Kratzbaum, Nass- und Trockenfutter, Spielzeug, Haubentoilette, Streu, Schaufel, Leckereien, Katzenmilch, Transportbox. Das dürfte ja wohl reichen. Näpfe sind genügend vorhanden. Ich brauche keine speziellen Katzennäpfe mit Katzendesign, ich bestimmt nicht. Aber ich fühle mich, als ob ich ein Kind bekomme. Gut, dass die Zoohandlung nicht auch noch Kinderwagen und Strampelanzüge anbietet. Ich weiß nicht, ob ich da hätte widerstehen können. Kurz frage ich mich, ob der blaue Kratzbaum die richtige Farbe hat. Vielleicht hole ich ja gar keinen Kater. Aber ein Baum in Rosa ist abartig. Und eine neutrale Farbe ist gerade nicht vorrätig.
Zu Hause wird alles aufgebaut. Und schon beginnen die Schwierigkeiten. Wohin eigentlich mit dem Kratzbaum? Wohin mit dem Katzenklo? Mit einigem Geschiebe und Gefluche wird Platz geschaffen. Die Wohnung ist noch voller als vorher. Das Klo steht nun vor der Waschmaschine. Die riesige Haube verdeckt die Ladeluke. Aber das alles nehme ich natürlich tapfer in Kauf. Dann geht es ins Tierheim. Einmal durch die Gänge, zweimal durch die Gänge, die Transportbox immer in der Hand. Viele Katzen sind nur zu zweit abzugeben, aber ich bin Neuling, ich will nur eine. Ich will auch keine junge, sondern eine, die um die sechs Jahre alt ist, wo der Charakter voll ausgebildet ist, die ruhig ist, die sich gern streicheln lässt, die mich nicht haut oder beißt, die ich nicht erziehen muss, die keinen Schaden anrichtet, die dankbar ist, dass ich sie aus dem Heim hole, die kein Freigänger ist, denn mehr als einen Balkon kann ich ihr nicht bieten. Ob ich vielleicht doch lieber ein Plüschtier kaufe?
Ein schwarzer Kater sticht mir ins Auge. Der ist unheimlich verschmust, aber noch im Flegelalter und erst ein Jahr alt. Ich muss auch an meine 87-jährige Mutter denken, die bei mir lebt und bestimmt nicht als Klettergerüst oder Sprungbrett missbraucht werden will. Eine Pflegerin wird gefragt. „Ja, wir hätten da eine weibliche Katze, ca. vier Jahre alt. Die ist am 1. April ins Heim gekommen. Wahrscheinlich wurde sie ausgesetzt.“ Aber wo ist die? In ihrem Weidenkorb natürlich, in der hintersten Ecke. Ob ich sie mal sehen dürfte? Sicher. Nach einer gefühlten Stunde lässt sich die Katze hervorlocken. Gelbe, klare Augen blicken uns ängstlich an. Bauch, Brust und Beine sind weiß, der Rücken ist silber- bis dunkelgrau getigert. Auf der rechten Brust hat sie einen neckischen getigerten Fellfleck, einen Orden sozusagen, auch wenn die sonst links angesteckt werden. Der Kopf ist wunderschön und ebenmäßig gezeichnet. Bis zum Nasenansatz und kurz unter die Augen ist sie getigert, der untere Teil mit der Schnauze ist weiß. Irgendwie stimmen allerdings die Proportionen nicht: großer Körper auf dünnen, hohen Beinen. Aber ich will ja keinen Schönheitswettbewerb mit ihr gewinnen, ich will sie ja nur streicheln dürfen. Kurz drückt sie ihren Kopf an meine Hand. Das ist bestimmt ein gutes Zeichen. Dann zeigt sie mir den Hintern. Gut, sie will mir nur andeuten, dass der sauber ist, dass sie keinen Durchfall hat. „Ist sie Freigängerin?“ frage ich. „Wissen wir nicht.“ „Ist sie lieb?“ „Unser Tierarzt hat sie als misstrauisch bezeichnet. Aber sie ist bestimmt eine ganz Verschmuste. Tierärzte sagen schnell sowas. Katzen mögen Tierärzte nämlich nicht.“ Verständnisvoll nicke ich. „Darf die Katze denn in Ihrem Bett schlafen?“ Im Brustton der Überzeugung verneine ich die Frage. Mein Bett gehört schließlich mir, mir allein. Es ist mein Bett. Basta.
„Was passiert eigentlich, wenn sie Freigang gewöhnt ist?“ „Dann könnte es Probleme geben. Dann könnte sie anfangen, in die Wohnung zu pinkeln.“ Ich denke an meine mit Teppichboden ausgelegten Zimmer, an den Geruch, den ich aus meiner Kindheit kenne, wo eine Nachbarin zwei unkastrierte Katzen hielt. Mir wird etwas anders bei diesem Gedanken. Aber irgendwie kann ich nicht mehr zurück. Ergeben nicke ich. „Ich nehme sie.“
Wir schreiten also zur Abwicklung des Kaufs. „Ihren Ausweis, bitte.“ Toll, der liegt zu Hause, am anderen Ende der Welt. „Haben Sie keinen Brief dabei, aus dem Ihr Namen und Ihre Adresse hervorgehen?“ Nein, natürlich nicht. Wer nimmt schon einen Brief mit ins Tierheim? Meine Nachbarin verbürgt sich für mich. „Sie ist wirklich die, für die sie sich ausgibt.“ Langes Zögern. Schließlich die Frage: „Stehen Sie im Telefonbuch?“ Ich nicht, aber mein Name und meine Adresse. Sorgfältig wird das überprüft. „Falls Sie anrufen wollen, da geht im Augenblick niemand ran.“ Ich ernte einen verwirrten Blick. Trotzdem werden die Papiere fertig gemacht, ich zahle meinen Obolus von über 120 Euro. Freundlich wird mir mitgeteilt, dass ich erst nach einem halben Jahr sicher sein kann, dass ich die Katze behalten darf. So lange ist die Wartefrist bei Fundtieren. Auch das noch, denke ich. Aber nun will ich es durchziehen, auch auf die Gefahr hin, mich von dem Tier wieder trennen zu müssen. „Und, übrigens, wir machen einen unangemeldeten Kontrollbesuch, ob die Katze es auch gut bei Ihnen hat und sie überhaupt da ist.“ Wieder nicke ich ergeben. Allerdings kann ich überraschenden Besuch nicht ausstehen. „Und umtauschen kann man sie auch nicht.“ Das hatte ich eigentlich auch nicht vor, obwohl ich mich jetzt fühle, als habe ich die Katze im Sack gekauft.
Mit den Papieren in der Hand geht es zurück zur Pflegerin. Mühsam wird die Katze in die Transportbox gezwängt. „Ach, übrigens, Martha-Luise frisst nur Trockenfutter.“ „Die schwedische Prinzessin?“ „Nein, die Katze, die ist nach ihr benannt.“ Toller Name, wirklich, ganz reizend. Ich brauche dringendst ein Buch mit Katzennamen. Das würde ich eintauschen gegen eine Batterie Nassfutter, das jetzt wohl zu Hause unnütz den wenigen noch vorhandenen Platz wegnimmt.
Stolz gehen wir zum Auto. Martha-Luise, die Katze, schreit sich die Seele aus dem Leib. Die ganze Fahrt über gibt sie keine Ruhe. Ständig schiebt sie eine ihrer dünnen Pfoten durch das Gitter und versucht, nach allem Möglichen zu angeln. Bestimmt ist sie eine kommunikative Katze, die sich mit mir unterhält, die schnurrt, wenn ich sie streichele, die auf den Schoß springt und sich dort zusammenrollt.
Endlich sind wir wieder zu Hause. Meine Nachbarin überlässt mich der Katze und meinem Schicksal, wünscht mir an der Wohnungstür noch viel Spaß. „Den werde ich bestimmt haben!“ sage ich im Brustton der Überzeugung.
Im Bad entlasse ich Martha-Luise in ihre neue Freiheit. Sie schaut sich kurz das Haubenklo an. Ob sie weiß, was es bedeutet? Dann rennt sie ins Wohnzimmer, läuft über den Tisch, fixiert den Fernsehapparat, erinnert sich aber wohl an ihre Erziehung und springt auf den Boden. Der Teppich besteht die erste Kratzprobe. Danach wird die Küche inspiziert. Offenbar sind die Hängeschränke von besonderem Interesse. Es folgen der Flur, das Schlaf- und das Arbeitszimmer. Zurück im Wohnzimmer würdigt Martha-Luise den blauen Kratzbaum mit keinem Blick. Hätte ich doch einen in Rosa nehmen sollen? Auch der Futternapf, rein weiß und aus Porzellan, gefüllt mit leckerem Trockenfutter, wird nicht beachtet. Ermüdet setze ich mich. Martha-Luischen interessiert sich auch nicht für mich. Zielgerichtet geht sie an den Wassernapf und trinkt. Ich habe einen Schnaps nötig nach den Aufregungen des Tages.
Die Katze streift immer noch durch die Wohnung, als ich den ganzen Verpackungsmüll von meinem Einkauf greife, um ihn zur Tonne zu bringen. Als ich zurückkomme, ist die Katze nicht mehr zu sehen und zu hören. Mir wird schlecht. Ich rufe – aber welche Katze hört schon auf Martha-Luise? Es herrscht vollkommene Stille. Kein Rascheln, kein Kratzen, kein Laut, nichts. Siedend heiß fällt mir ein, dass die Katze vielleicht beim Müllwegbringen ins Treppenhaus entwichen ist. Also gehe ich hinaus, laufe das Treppenhaus vom Dach bis zum Keller ab, immerhin sieben Stockwerke, schaue auch nach draußen, doch nirgendwo sitzt eine Katze. Klasse. Zurück in die Wohnung, wo außer meinem keuchenden Atem nichts zu hören ist. Es hat keinen Sinn, ich gehe ins Bett. Natürlich kann ich nicht schlafen. Und ich lausche auf jedes Geräusch. Morgens um 5.00 Uhr höre ich Schlabbergeräusche und bin begeistert. Martha-Luise ist noch immer da.